Sehnsucht nach haptischen Erlebnissen
„Es ist ein Haus, das das Handwerk würdigt und das die Technik gegenüber Technologie verteidigt.“ So beschreibt der Architekt Hugo Mompó das Backsteinhaus in Bétera nahe Valencia. Er verbalisiert damit eine ganze Zeitströmung: Technologische Mega-Entwicklungen wie Digitalisierung rufen immer auch Gegentrends hervor und so weckt die fortschreitende Virtualisierung ein neues Bedürfnis nach Authentizität und Haptik. In immer mehr Haushalten löst der Plattenspieler Streamingdienste ab, Siebträger den Kaffeevollautomaten und selbstgebackenes Brot die Massenware aus dem Supermarkt. Auch die Architektur reflektiert den Wunsch nach Qualität, die man im wahrsten Sinne des Wortes spüren kann, den Wunsch nach echten, regionalen Materialien.
Hugo Mompó vom deutschspanischen Architekturbüro Quadrat Estudio nutzt Backstein für das Haus in Bétera in seinem unbehandelten Zustand, als optisches Element, aber auch, um allein über die Architektur die hohe Energieeffizienz zu erreichen: Verstellbare Holzjalousien sorgen für Schatten in den Sommermonaten, durch die natürliche Querlüftung kann auf eine Klimaanlage verzichtet werden, lediglich eine Fußbodenheizung sorgt für Wärme im Winter. Backstein ist von den Wänden über den Boden bis zur Decke das bestimmende Merkmal und stellt einen Bezug zu dessen langer Tradition in und um Valencia her. Das Projekt zeigt aber auch: Auch wenn Nostalgie eine Rolle spielt, geht es guter Architektur bei der Sehnsucht nach traditioneller Materialität keineswegs um rückwärtsgewandte Reproduktion, sondern um eine zukunftsgewandte Anlehnung an Tradition.
Langlebigkeit heißt Nachhaltigkeit
Die Auszeichnung für das Haus in Bétera mit dem Erich-Mendelsohn-Preis 2023 für Backstein- Architektur in Bronze deutet darauf hin, dass Mompó mit seiner Herangehensweise auf einer Linie mit Mendelsohn selbst ist: Dieser verzichtete vollständig auf Wiederholung alter Formen und entwickelte stattdessen eine neue, zeitgemäße Architektursprache, die dennoch emotional, sinnlich und menschlich durchdrungen war. Das macht ihn auch heute, hundert Jahre später, noch so modern. Eng verbunden ist die aktuelle Entwicklung mit dem steigenden Bewusstsein für den Zusammenhang zwischen Langlebigkeit und Nachhaltigkeit.
Architekt Wolfgang Brune entschied sich für das Haus W in München gemeinsam mit den Bauherren für anthrazitfarbenen Backstein, der dem gestaffelten Haus eine markante und zugleich ruhige, dauerhafte Identität verleiht. Der dunkle Klinker im Dünnformat ist im wilden Verband gemauert, Filtermauerwerk mit zurückversetzter Fuge lässt auf der Nordseite Licht ins Gebäude. Die Special Mention beim Erich-Mendelsohn-Preis 2023 für Backstein-Architektur beweist: Sehnsucht nach Authentizität erfüllt sich nicht in der Nachahmung des Alten, sondern mit einer neuen, expressiven Sprache, die Tiefe hat.
Stärkung der Identität von Orten
Bei den eigenen vier Wänden spielt Identität eine große Rolle. Das britische Büro Erbar Mattes möchte Gebäude schaffen, die die Zeit überdauern, die wie selbstverständlich an ihrem Ort stehen, dort hingehören. Bei der Sanierung des Londoner Pubs Blockmakers Arms zu einem Wohnhaus setzen sie deshalb auf eine Symbiose aus Alt und Neu. Dies Vorhaben gelingt durch das Material: Die neuen Anbauten sind aus handgefertigten graubraunen Backsteinen errichtet. Sie ergänzen das verwitterte Backstein-Mauerwerk aus dem 19. Jahrhundert, ohne mit der verzierten Fassade des bestehenden Gebäudes zu konkurrieren. Der Gold-Winner beim Erich-Mendelsohn-Preis 2023 für Backstein-Architektur erfüllt moderne Nachhaltigkeitsstandards, indem historische Bausubstanz recycelt wurde, ein hohes Maß an Wärmedämmung erreicht wird und die Dächer ökologisch vielfältig begrünt sind.
Handwerkliche Präzision
Das Mendelsohn’sche Verständnis vom räumlichen Kontext und vom Verhältnis von Material und Ort, das zwischen Tradition und Moderne vermittelt, zeigt sich auch im Haus M in Münster. Architekt Kilian Kresing wählte die Materialien für den Standort mit höchster Sorgfalt. Der natursteinfarbige Backstein nimmt Bezug auf die Nachbarbebauung, der Giebel erinnert an die historische Villenbebauung. Das Fassadenrelief und der Lichteinfall durch die Fenster sind mit handwerklicher Präzision geplant.
Den Anforderungen an Nachhaltigkeit gewachsen
Schon Mendelsohn schätzte den Backstein als ehrliches, haptisches Material. Auch heute noch ist seine handwerkliche Authentizität seine wichtigste Eigenschaft. Zusammen mit seinem hochwertigen, langlebigen Charakter erfüllt er so nicht nur die Sehnsucht nach traditioneller Materialität, sondern auch den Wunsch nach Qualität, die den Anforderungen an Nachhaltigkeit gewachsen ist.